„Leben zwischen Gugelhupf und Google“

Therapeutisches Outen

Fotos: Andreas Assi Antoniuk bei der Premiere am 20.6.2013 im Treff 9 in Heidenheim

„Leben zwischen Gugelhupf und Google“ heißt das stark biographisch geprägte, mutige Stück der inklusiven Theater-AG von „Freunde schaffen Freude“, das jetzt im Treff 9 gezeigt wurde.

Die Szenen-AG von „Freunde schaffen Freude“ hat vor ziemlich genau zwei Jahren ihr Stück „Herr Wolf und die Rotkäppchen“ uraufgeführt. Auch das war eine starke Leistung aller Beteiligten, die auch das Publikum begeisterte. Menschen wie Du oder ich oder mit den verschiedensten Behinderungen spielten ein Stück, das genau für diese Besetzung konstruiert worden war.

Jetzt, bei „Zwischen Gugelhupf und Google“ (ein Titel, der nur bedingt die Vorfreude verstärkt hat, im Stück aber plausibel begründet wird) – jetzt spielen sie sich selber auf der Bühne. Das ist ungleich komplexer und schwieriger und gleichzeitig reizvoller als halt irgendeine beliebige Rolle zu übernehmen – für die Akteure wie fürs Publikum.

Wohlgemerkt: Sie spielen sich selber. Natürlich sind Laiendarsteller immer mindestens ein bisschen sie selber, wenn sie auf der Bühne stehen. Über den Schatten ihrer Persönlichkeit können da nur die besser Geübten und Geschulten springen. Und für die theaterspielenden „Freunde“ gilt das vielleicht noch ein bisschen mehr.

Nun aber stellen sie ihre eigene, durchweg nicht unproblematische Vita vor. Doch sie bekommen einen Bühnennamen, sind also zunächst fiktive Figuren – bei aller Stimmigkeit der biographischen Fakten.

Höchstpersönlich erlittene Traumata werden benannt – und dazu trauen sich die damit durchaus intim beschriebenen Persönlichkeiten (so darf, so muss man sie nennen bei der präsentierten Qualität dieser Viten) auf der Bühne zu stehen und sich dem Publikum zu stellen.

„Schaut her, mein Leben wird hier gerade verhandelt“: Das ist das höchst mutige Konzept, das die gelernte Theaterpädagogin und Spielleiterin Inge Grein-Feil ausgetüftelt und entwickelt hat. Und für das sie offensichtlich ihre so unterschiedlichen „Freunde“ nachhaltig begeistern konnte.

Inge Gerin-Feil hat für diesen „Googlehupf“ ein Konzept erarbeitet, das auf den ersten Blick schlicht stimmig ist – und doch hochkomplex. Primär ist das gemeinsame Verarbeiten von Krisen und Problemata; sekundär die schauspielerische Leistung en detail. Theater wird zur intensiven Therapie am konkreten Fall.

Sieben ihrer Freunde hat Grein-Feil dazu bewegen können, sich existenziell zu „outen“ – in einem mutigen, dramaturgisch überzeugenden Reigen. Das ist, man kann es nicht hoch genug einschätzen, bunte, gelebte, beispielhafte Inklusion.

Und die Aufführung ist eine siebenfache konzeptionelle Parallelität: Da spielt zuerst eine Musik, die für den Geschmack und die Leidensgeschichte des jeweiligen Akteurs steht.

Dann tritt der Akteur nach vorne und schildert eine prägende Szene, die er als junger Mensch erleben musste. Er/sie stellt sich vor mit einem Kunstnamen und sparsamsten Requisiten und einem weit entfernten, meist kindlichen Erlebnis.

Da werden Kriegserfahrungen ebenso präsent wie das Erlebnis von härtester Züchtigung oder das erzwungene Miterleben einer Vergewaltigung der noch kindlichen Freundin. Herbe Erlebnisse sind das, die nicht gemacht haben zu müssen jeden im Publikum erleichtert sein lässt. Aber es sind, wohlgemerkt, reale Erfahrungen, die ein Leben bestimmen können. Es sind Erfahrungen von Menschen unter uns; und sie machen betroffen.

Auch wenn sie hier, beim „Googlehupf“, durchaus unterhaltsam präsentiert werden. Das hinzukriegen, spricht für die Kunstfertigkeit von Inge Grein-Feil ebenso wie für das Vertrauen, das sie zu ihren „Freunden“ herstellen konnte. Ohne diese tragfähige emotionale Basis ist ein solch diffiziles Stück nicht denkbar.

Und das führt zugleich in den Kern der Arbeit von Grein-Feil in Dischingen – der „Ingenau“, wie Dieter Hildebrandt dieses vorbildliche soziale Biotop einmal benannt hat.

Nach der geschilderten Jugendszene tritt, dritte Stufe, eine „Lebens-Protokollantin“ (Heidemarie Blödorn) in Erscheinung, die aus ihrem „Lebensbuch“ das reale Alter der darstellenden Person und wichtige biographische Angaben vorträgt. Das beschreibt dann den realen Akteur, den hinter oder besser: in der Spielfigur stehenden Menschen. Manches Leiden wird da sachlich vorgestellt – man ahnt nicht nur, man bekommt hier ausdrücklich vorgestellt, was Menschen unserer Umgebung alles erfahren mussten. Angenehm ist das nur selten.

Das wird dann, vierte Stufe, vom „Diabolo“ (Helga Gentner-Illenberger) in ironischen und unterhaltsamen Sottisen konterkariert. Auch das „Blaue Maskottchen Herzkasper“ (die mehrfach behinderte Corinna Bottyen im Rollstuhl) setzt dann Sätze hinzu, die schon in ihrer lebensbejahenden Drolligkeit zu amüsieren wissen. Schließlich, fünfte Phase, treten die Akteure, zur individuellen Musik zurück – und ihr Leben, ihr Schicksal wird von den im Hintergrund sitzenden Akteuren positiv kommentiert.

Das ist ein stringentes, ein beeindruckendes, ja: begeisterndes dramaturgisches Konzept, das Inge Grein-Feil da entwickelt hat. und das einmalig ist und bleiben muss: So etwas kann man kein zweites Mal machen. Das ist so grundsätzlich anders, stimmig und unwiederholbar.

Inge Grein-Feil hat da ein inkludierendes Gesamtkunstwerk erschaffen, das man durchaus preiswürdig finden darf.

Die sich persönlich auf den Präsentierteller stellenden Akteure sind Karla Scheufele, Ruth Eckardt, Ingrid Romig, Michael Herzog, Charlie Illenberger, Otto Kipp und Frank Scheufele: Dessen angebetete Partnerin Evi Schweinstetter war nur mit einer Puppe präsent, weil sie gerade bei den „Specialympics“ kämpft – Frank, der 37-jährige Bräutigam mit Downsyndrom, präsentierte sich also ohne sein ebenfalls „behindertes“ Alter Ego. Er tat das erkennbar aufgeregt, doch höchst sympathisch.

Zum szenischen Programm hat Grein-Feil einige lehrhafte Elemente gesellt. Da war die Einspielung von Aussagen des Münchner Traumatherapeuten Ulrich Keller, der zwischen roten (traumatischen) und blauen (überlebenssichernden, lebenstragenden) Elementen unterscheidet: „Mit vielen Freunden kannst Du noch besser Deine Lebensgeschichte gesund werden lassen“ – und das genau ist ja das Anliegen der „Freunde“ in der Arche.

Auch einige von Frank Scheufele präsentierte Tafeln illustrieren das Anliegen der Truppe. Tafeln mit elementaren Rechtsgrundsätzen waren das ebenso wie ein Zitat von Jesus: „Alles, was Ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch Ihr ebenso“.

Das ist ja auch das Kernanliegen von „Freunde schaffen Freude“. Besser als mit „Leben zwischen Google und Gugelhupf“ kann man das nicht umsetzen.

Das Publikum war begeistert. Abschluss der Aufführung war eine Polonaise der meisten Zuschauer durch den Saal von Treff 9 – so gut wie alle Betrachter hatten eine rote Clownsnase wie „Grande Carlo“ aufgesetzt: „Mit roter Nase sieht man vieles nicht so eng“.

Inklusion als begeisterndes Gesamterlebnis für Akteure wie für Publikum. Inge Grein-Feil („Ich habe meinem Team so vieles abverlangt“) hat’s möglich gemacht. Im passenden „Chapeau“ am Ausgang wurden Spenden für die künftige Arbeit gesammelt.

Manfred Allenhöfer, Heidenheimer Zeitung, 22.06.13